Mein Kampf gegen die Emetophobie

Vor Kurzem habe ich euch über die Phobie berichtet, die mich seit meiner Jugend begleitet: die Emetophobie, Angst vor dem Erbrechen. Wie ich dort erzählt habe, kann ich - nach schlimmen Jahren, in denen ich mich kaum noch getraut habe, das Haus zu verlassen, und den ganzen Tag lang mit Angst und Panikattacken zu tun hatte - inzwischen sehr gut mit der Phobie umgehen. Wie ich das geschafft habe, darüber möchte ich euch heute berichten.

Vorher eine kurze Zusammenfassung: Die erste Panikattacke hatte ich bereits in ganz jungen Jahren. Anfangs hatte ich noch Angst davor, zu ersticken - in meiner Jugend hat sich das dann geändert, seither hatte ich panische Angst davor, mich erbrechen zu müssen. Es ging sogar so weit, dass ich monatelang nur noch zum Einkaufen die Wohnung verlassen habe und um zur Therapie zu gehen.

Ich hatte ständige Angst davor, mich irgendwo mit Magen-Darm-Grippe anzustecken. In jeder Nacht bin ich mehrmals aufgewacht mit heftigen Panikattacken. Meine Gedanken kreisten nur um ein Thema: Könnte ich mich aus irgendeinem Grund übergeben müssen? Hatte ich etwas Falsches gegessen? War irgendwer in meiner Nähe krank? Und das Ganze, obwohl ich mich zuletzt im Alter von 12 Jahren übergeben musste - ich bin dafür, glücklicherweise, nicht anfällig. Trotzdem hinderte mich diese Phobie daran, ein "normales" Leben zu führen. Es gab sogar Phasen, in denen ich eigentlich nicht mehr leben wollte. Doch ich habe die Hoffnung nie aufgegeben, und mir helfen lassen.

Nachdem zwei Therapien (im Alter von 15 und 18 Jahren) leider nicht erfolgreich waren, wurde die Phobie langsam immer schlimmer. Ich hatte eine Ausbildung angefangen, und irgendwann war mir den ganzen Tag lang übel und ich hatte Angst. Über die Jahre hatte ich gelernt, mir nichts anmerken zu lassen - ich konnte in der Buchhandlung mit äußerer Ruhe einen Kunden bedienen, während mir innerlich nur danach war, weinend und schreiend wegzurennen. Um zu bemerken, dass ich gerade eine Panikattacke hatte, musste man mich schon sehr gut kennen.

Ich ertrug es lange, viel zu lange - bis es irgendwann nicht mehr ging. Ich konnte einfach nicht mehr. Das Leben war nur noch ein einziger Alptraum für mich. An einem Tag bei meiner Ausbildungsstelle konnte ich nicht mehr. Ich habe es gerade noch geschafft, Bescheid zu geben, dass es mir gar nicht gut geht und ich nach Hause muss - dann habe ich meine Mutter angerufen, um ihr zu sagen, dass sie mich abholen soll und ich in eine Klinik müsse. Glücklicherweise wusste ich, dass es diese Möglichkeit gibt, sich helfen zu lassen.

Der erste Weg führte mich zu meiner damaligen Hausärztin, die vorschlug, mich in die Klinik Lahnhöhe einzuweisen - eine psychosomatische Klinik. Ich weiß nicht mehr, wie ich die Wartezeit, bis ich dorthin konnte, überstanden habe. Es dauerte einige Wochen, in denen ich krankgeschrieben war.

Als ich dann endlich dort ankam, wollte ich eigentlich nur eins: Schnellstmöglich wieder dort weg. Zuviele fremde Menschen, ich wollte wieder in meine "sicheren" vier Wände nach Hause. Ich werde der einen Krankenschwester, die für unsere Station zuständig war, für immer dankbar sein. Als ich zu ihr ging, weil ich nicht mehr weiterwusste und nach Hause wollte, sagte sie folgendes: "Versuchen Sie, noch bis morgen zu bleiben. Nur noch eine Nacht. Und dann reden wir morgen früh noch einmal." Genau das habe ich gemacht, und in dieser Nacht beschlossen, dass ich kämpfen will. Dass ich nicht aufgeben will. Dass ich endlich aus diesem Alptraum herauswollte.

Die sechs Wochen, die ich dort verbracht habe, waren der wohl wichtigste Einschnitt in meinem Leben. Die Zeit dort war angefüllt mit unterschiedlichen Therapien - Gruppen- und Einzeltherapie, Musiktherapie, Gestaltungstherapie, Familienaufstellung... Doch das wohl Wichtigeste für mich war der Austausch mit den anderen Patienten. Zum ersten Mal merkte ich, dass es vielen anderen ähnlich ging wie mir. Ich konnte wieder mit anderen Lachen, und auch gemeinsam weinen. Es gab Momente, in denen ich mich schämte. Weil ich die furchtbaren Lebensgeschichten von anderen hörte, und mich fragte, wieso es mir auch so schlecht ging - hatte ich doch gar nicht so viel Schlimmes erlebt. Doch die Anderen sagten mir, ich solle es nicht denken. Jeder habe sein Päckchen zu tragen und man habe solch eine Erkrankung nicht ohne Grund.

Die Zeit in der Klinik war sehr schwer. Ich musste mir eingestehen, wie schlecht es mir eigentlich geht. Erste Erkenntnisse, wieso das so war, stellten sich ein. Erste Strategien, wie man damit umgehen könnte. Am Ende der sechs Wochen ging ich mit gemischten Gefühlen nach Hause. Freude, Trauer, Aufregung, Angst. Doch ich konnte endlich wieder etwas fühlen! Zu lange hatte ich, außer Angst, nichts mehr gefühlt. Außerdem ging ich mit einigen Diagnosen: Mittelschwere depressive Episode, generalisierte Angststörung, Phobie.

Doch ich habe vor allem eines aus der Zeit mitgenommen: Die Erkenntnis, dass es so nicht weitergehen konnte. Dass sich in meinem Leben einiges ändern musste. Ich fuhr nach Hause, brach meine Ausbildung ab, beendete meine Beziehung, und entschloss mich, wegzuziehen. Weg von dem Ort, der mit so vielen negativen Gefühlen für mich behaftet war. Ja, es war eine Flucht, aber eine notwendige. Diese Entscheidungen traf ich nicht über Nacht, aber im Laufe der auf die Klinik folgenden Wochen und Monate. Nach der Klinik ging ich zunächst noch in eine Tagesklinik. Dies war sehr wichtig, da man, entlassen aus der "Käseglocke" Klinik, erst einmal wieder in der Realität ankommen muss. Das ist nicht einfach, und die Tagesklinik hat dabei geholfen.

Ein halbes Jahr später war es dann so weit: Ich zog ins 250 km entfernte Aachen. Weg von meiner Familie, meinen Freunden, meiner Kindheit und Jugend, in eine Stadt, die ich kaum kannte. In der ich nur eine Person kannte - eine Freundin, die ich in der Klinik kennengelernt hatte. Viele verstanden es nicht, fast niemand traute mir zu, dort zurecht zu kommen. Ich denke, die meisten dachten, dass ich irgendwann wieder zurückkehre. Doch es war die beste Entscheidung, die ich treffen konnte. Auch wenn der Anfang sehr schwer war.

Ich hatte bis zum Beginn meines Studiums noch neun Monate Zeit. Das war auch gut so, denn es folgte die schlimmste Zeit meiner Angst. Weg von allen "Sicherheiten", auf mich alleine gestellt, konnte sie sich ungehindert ausbreiten. Tagsüber kreisten meine Gedanken nur um das eine Thema. Nachts hatte ich mehrere Panikattacken. Es war schrecklich. Die Wohnung verließ ich eigentlich nur, wenn ich einkaufen musste. Ich suchte mir direkt eine Therapeutin, die Wartezeit bis zur Therapie überbrückte ich ein wenig mit dem Besuch einer Selbsthilfegruppe. Außerdem laß ich, was immer ich finden konnte, zum Thema Ängste und Depressionen. Auch ein Online-Forum zum Thema gab mir Halt, dort fand ich Gleichgesinnte, "Verbündete", denen ich mein Herz ausschütten konnte, ohne mich schämen zu müssen.

Als die Verhaltenstherapie dann anfing, ging es zunächst einmal darum, mir immer und immer wieder das Erbrechen vorzustellen - wie es sich anfühlte, schmeckte, roch, aussah... Ich setzte mich zuhause hin und malte es mir immer wieder aus. Und bewertete, wie stark die Angst ist. Ich stellte fest: Die Angst bleibt nicht gleich, wenn man eine Situation aushält. Sie wird irgendwann wieder schwächer - der Körper kann sie gar nicht auf Dauer aufrechterhalten.

Kurz nach Beginn der Therapie machte meine Therapeutin eine Babypause. Ich ging daher zu ihrem Kollegen, der auch in der Gemeinschaftspraxis arbeitete. Die Therapeutin war auch sehr gut, doch bei meinem neuen Therapeuten war ich noch besser aufgehoben. Bei einer Therapie ist es wichtig, dass man mit dem Therapeuten auf einer Wellenlänge liegt. Das Verhältnis zwischen Patient und Therapeut ist für mich einer der wichtigsten Punkte für eine erfolgreiche Therapie. In dieser Therapie konnte ich ganz ich selbst sein. Es war sehr locker, oftmals auch mit viel Humor, doch auch mit der nötigen Ernsthaftigkeit. Ich lernte sehr schnell, was eine Verhaltenstherapie ausmacht. In der Verhaltenstherapie geht man davon aus, dass störungsbedingtes Verhalten erlernt wurde und somit auch wieder verlernt werden kann.

Anders ausgedrückt: Man kann lernen, dass in angstmachenden Situationen nichts Schlimmes geschieht. Der Weg hin zur Phobie (in bestimmten Situationen erlebt man Angst, vor künftigen, ähnlichen Situationen entstehen angstauslösende Gedanken, man hat bereits vorher Angst oder Bedenken, sodass eine weitere Panikattacke leichter entsteht - Stichwort "Angst vor der Angst - man vermeidet diese Situationen und die Angst verlagert sich) wird sozusagen umgekehrt. Man stellt sich angstauslösenden Situationen, erträgt die Angst und sammelt immer wieder die Erfahrung, dass nichts schlimmes passiert, und die Angst irgendwann sogar nachlässt. Das führt dazu, dass man künftig weniger angstauslösende Gedanken hat (die Angst vor der Angst wird weniger), man hat weniger Angst in der Situation und irgendwann "verlernt" man das ganze dann wieder.

Soviel zur Theorie. Was sich aber in der Theorie so logisch und nahezu einfach anhört, ist es in der Praxis nicht. Es war ein langer, anstrengender, trauriger, schwerer Weg, der jahrelang dauerte. Wenn ich in Therapie war, erzählte ich, was ich in der Zeit zwischen zwei Terminen gemacht hatte, wie es klappte; und während der Therapie blieb Zeit, über die Ursachen zu sprechen. Normalerweise geht ein Therapeut mit in solche angstmachenden Situationen (Menschenmengen, Bus fahren u.ä.), doch meinem Therapeuten wurde schnell klar, dass das bei mir nicht nötig war, weil ich mich mit den Situationen alleine auseinandersetzte. So blieb Zeit, vieles zu besprechen, was sonst in einer Verhaltenstherapie gar nicht in der Form stattfindet.

Ich begann, mich immer wieder in die Situationen zu begeben, die mir Angst machten. Ich fuhr wieder Bus - anfangs nur eine Station, mit Musik auf den Ohren und an der Tür sitzend, dann immer weiter. Ich ging in Menschenmengen, erst nur am Rand, dann mittenrein. Ich ging zu Freunden nach Hause. Ich ertrug die Angst und die Übelkeit und merkte immer wieder: Es passiert nichts. Du musst dich nicht übergeben. Die Angst verschwindet irgendwann wieder.

Doch es war schwer, sehr schwer. Es war ein ständiges Auf und Ab. Mal ertrug ich eine Situation mit wenig Angst - beim nächsten Mal floh ich wieder, weil ich es einfach nicht aushielt. Auf zwei Schritte vor folgte ein Schritt zurück. Manchmal waren es sogar zwei oder drei Schritte zurück. Es war so frustrierend, so enttäuschend, wenn auf gute Tage oder Wochen wieder schlechte folgten. Ich dachte, ich werde es nie schaffen. Doch mein Therapeut machte mir Mut, erklärte mir, dass es normal sei, dass es keine stetige Besserung gibt. Und auch wenn ich manchmal aufgeben wollte: Ich kämpfte! Immer und immer und immer wieder. Bis ich wieder Dinge machte, von denen ich nicht gedacht hatte, sie überhaupt wieder machen zu können. Ich ging wieder essen - und saß danach weinend vor Angst Zuhause, weil ich dachte, etwas verdorbenes gegessen zu haben. Doch es passierte nichts. Also traute ich mich irgendwann wieder. Und irgendwann wurden die Tage, an denen die Angst nicht mehr überwog, häufiger. Irgendwann saß ich in der Uni, mit Panik zwischen all den fremden Menschen - aber ich ging hin. Jeden Tag. Und es wurde, langsam, besser. Einfacher. Und dann wieder schwerer. Und wieder einfacher. Irgendwann hatte ich nicht mehr jede Nacht eine Panikattacke, sondern nur noch jede zweite Nacht. Und irgendwann noch seltener. Immer wieder kamen Phasen, da war es, als hätte ich alles Erlernte wieder vergessen. Doch auch dann kämpfte ich mich wieder da raus - wusste ich jetzt doch, wie es geht.

Irgendwann war die Therapie zu Ende. Ich hatte genug gelernt, um mit der Phobie umzugehen. Und heute? Kommt die Angst nur noch in Ausnahmefällen. Und ich kann damit umgehen. Ich denke, komplett weggehen wird die Phobie vielleicht nie. Sie hatte ja auch all die Zeit eine wichtige Funktion - dazu ein anderes Mal mehr. Heute kann ich die Phobie als eine Begleiterin sehen, die wichtig für mich war. "Fräulein Angst" eben. Froh, dass sie nicht mehr eine solche Macht über mein Leben hat, bin ich dennoch!

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