Emetophobie

Ängste kenne ich bereits mein ganzes Leben lang leider nur zu gut... Dank generalisierter Angststörung vergeht eigentlich kein Tag, an dem ich mich nicht wegen irgendetwas sorge oder ängstige. Heute will ich euch aber über die Phobie berichten, die mein Leben wohl am stärksten beeinflusst hat: Die Emetophobie, die Angst vor dem Erbrechen.

Ja genau, richtig gelesen. Andere haben panische Angst vor Spinnen, vor dem Zahnarzt oder vor Menschenmengen - mir macht nichts soviel Angst, wie der Gedanke, mich übergeben zu müssen. Das zugegeben sehr Eigenartige daran: Ich habe mich zum letzten Mal vor über 20 (!) Jahren übergeben. Ich hatte schon immer einen unempfindlichen Magen und war noch nie anfällig für Magen-Darm-Grippen. Ich erinnere mich nicht mal mehr daran, wie es sich eigentlich anfühlt, sich übergeben zu müssen.

Trotzdem gab es eine Zeit in meinem Leben, in der ich mich von morgens bis abends damit beschäftigt habe, ob ich mich eventuell übergeben muss. Nachts ging es dann weiter, ich bin mehrmals in jeder Nacht mit heftigen Panikattacken wachgeworden. Das Vertrackte an der ganzen Situation: Panikattacken verursachen (unter anderem) starke Übelkeit. Die Übelkeit hält dann wieder die Panik aufrecht. Ein Teufelskreis.

Phobien und Angsterkrankungen sind ja grundsätzlich nicht wirklich "logisch". Angst vor Spinnen braucht man in unseren Breitengraden eigentlich nicht haben, der Zahnarzt will einem nur helfen, Menschenmengen sind meistens auch ungefährlich - und das Erbrechen ist eine wichtige Funktion des Körpers, um verdorbenes Essen, Krankheitserreger oder beispielsweise eine Vergiftung loszuwerden. Rational ist einem das natürlich auch bewusst. Doch das ändert nichts an dem Gefühl der Panik, dass die jeweiligen Dinge in einem auslösen können.

Meine erste Panikattacke (soweit ich das im Nachhinein beurteile, damals war mir absolut nicht klar, was da mit mir los war), an die ich mich erinnern kann, hatte ich schätzungsweise mit 7 oder 8 Jahren. Ich habe damals bei einer Freundin übernachtet und bin nachts mit einem schrecklichen Gefühl wachgeworden. Heute weiß ich, dass das Gefühl heftige Angst war. Eine Panikattacke. Damals verstand ich absolut nicht, was los war...

Die nächste Panikattacke, an die ich mich erinnern kann, war während meines 12. Lebensjahres. Wir haben den Geburtstag einer Freundin im Kino gefeiert, und auf einmal wurde mir schwindelig, übel und ich wollte einfach nur noch da weg. Irgendwann, als wir wieder zuhause waren, hat das Gefühl dann nachgelassen.

Ab diesem Zeitpunkt hatte ich mit immer kürzeren Abständen dazwischen regelmäßig Panikattacken. Trotzdem wusste ich nicht, was mit mir los ist. Anfangs hatte ich noch Panik, ersticken zu müssen - das ging sogar mal so weit, damals war ich 15 Jahre alt, dass meine Eltern mich nachts zum Notarzt fahren mussten, der mir eine Beruhigungsspritze gab - und uns das Versprechen abnahm, dass ich zu einem Therapeuten gehen würde. Das war dann der Moment, in dem meiner Familie und mir wohl klar wurde, dass etwas "nicht mit mir stimmt", dass ich Hilfe brauche. Ich bin dann auch kurz darauf regelmäßig zu einem Therapeuten gegangen, geholfen hat es leider kaum. Die Angst änderte sich dann irgendwann dahingehend, dass ich Panik davor hatte, mich übergeben zu müssen.

Es wurde immer schlimmer, die Panikattacken häufiger. Wirklich in Worte fassen konnte ich es damals nicht. Irgendwann fand ich dann doch die Worte: "Ich habe solche Angst davor, mich übergeben zu müssen. Ich habe keine Ahnung, wieso, was mit mir los ist. Ich glaube manchmal, dass ich verrückt werde." Zum Glück war bei diesem Gespräch mit meinen Eltern auch meine Tante dabei - die mir dann erzählte, dass sie diese Angst auch habe. Plötzlich fühlte ich mich nicht mehr so alleine, hatte nicht das Gefühl, dass mich sowieso keiner verstehen wird. Es war unglaublich erleichternd. Die Angst aber blieb mein ständiger Begleiter.

Als ich dann mit 20 aus meiner Heimat wegzog, und 250 km von meiner Familie entfernt war, folgte die schlimmste Zeit mit der Emetophobie. Meine Gedanken drehten sich den ganzen Tag und die halbe Nacht lang nur noch darum: Kann ich mich irgendwo mit Magen-Darm-Grippe angesteckt haben? Habe ich etwas falsches gegessen? Wieso rumort mein Magen? Wieso spielt mein Darm verrückt? Wieso ist mir so hundeelend, so kotzübel? Früher wäre es für mich übrigens nicht möglich gewesen, dieses Wort zu schreiben. Selbst heute habe ich noch ein etwas beklemmendes Gefühl dabei.

Mir ist bewusst, dass man dies wohl nur schwer verstehen kann, wenn man selbst keine Phobie hat. Um es etwas zu verdeutlichen, wie sehr diese Angst mein Leben bestimmt hat: Ich habe etwa 9 Monate lang die Wohnung fast nicht mehr verlassen. Nur noch für die nötigsten Dinge: Zum einkaufen gehen und um zu meinem damaligen Therapeuten zu fahren. Diese Verhaltenstherapie war mein großes Glück. Es waren schlimme Jahre, doch mit der Zeit und vielen kleinen mühseligen Vorwärtsschritten und immer wieder großen Rückschritten habe ich diese Phase meines Lebens überwunden. Doch dazu schreibe ich ein anderes Mal mehr.

Heute nur noch einiges zu der Emetophobie, wie sehr sie mich beeinflusst hat. Wenn ich mal draußen war, hatte ich einfach nur Angst, dass sich in meiner Nähe jemand übergeben wird. Busfahren war ein einziger Albtraum, weil ich dann im Fall des Falles nicht direkt hätte fliehen können. Ich habe mich bemüht, möglichst wenig zu berühren, was andere Menschen berührt hatten (aufgrund möglicher Bakterien und Viren) - Türklinken, Einkaufswagen, der Halteknopf im Bus... Sollte ich Medikamente nehmen, weil ich krank war, hatte ich große Angst vor Nebenwirkungen. Manchmal konnte ich mich nicht mal überwinden, sie zu nehmen.

Ich hätte damals nichts gegessen, ohne mir vorher gründlich die Hände zu waschen. Essen war ohnehin nur sehr eingeschränkt möglich, lange Monate habe ich nur für mich "sichere" Dinge gegessen. Das waren vor allem Nudeln mit Tomatensoße, Brot, Gummibärchen. Obst nur dann, wenn es eingepackt und somit nicht von anderen berührt worden war. Das war es im Prinzip in dieser Zeit - leichter verderbliche Lebensmittel wie beispielsweise Eier, Fleisch oder Fisch waren undenkbar. Essengehen natürlich auch - dort hatte ich ja keine Kontrolle darüber, ob die Lebensmittel noch gut waren, und ob auch keiner, der sie bei der Zubereitung berührte, krank war.

Die Nächte waren manchmal kaum zu ertragen. Ständig diese Übelkeit und die Panik. Wieviele Nächte ich mehr wachend als schlafend verbracht habe, wieviele Nächte ich mich irgendwann völlig erschöpft in den Schlaf geweint habe, wenn die Panik endlich nachgelassen hat - ich weiß es nicht mehr. Wenn ich in den Nachrichten etwas über den Noro-Virus hörte, wollte ich mich einfach nur noch verkriechen. Oft wollte ich einfach nicht mehr leben - besser gesagt: Ich wollte so nicht mehr leben müssen. Und ich sah keinen Ausweg.

Auch in der Zeit, als ich dann wieder mehr unter Menschen ging, blieb die Angst erstmal ähnlich heftig. Wenn Karneval gefeiert wurde, habe ich mich wieder tagelang nicht aus dem Haus gewagt, aufgrund der betrunkenen Menschen. Wenn irgendwo auf der Straße Erbrochenes lag, bekam ich Panik. Wenn ich irgendwo zu Besuch war, der mir dann plötzlich erzählte, dass ihm schlecht war oder dass er an Magen-Darm gelitten hat, wollte ich nur noch weg. Danach hatte ich tagelang Angst, dass ich mich angesteckt haben könnte. Ich saß dann nur noch auf dem Sofa und habe gewartet. Jedes Rumoren im Magen war für mich der Hinweis darauf, dass es losging. Ich habe nur darauf gewartet, dass es anfängt - passiert ist es nie!

Mein Ziel war es immer, dass die Emetophobie nicht mehr diese "Macht" über mein komplettes Leben hat, dass ich nicht mehr in ständiger Angst davor lebe, mich eventuell übergeben zu müssen. Das habe ich inzwischen geschafft! Wie ich es geschafft habe, davon werde ich in einem neuen Blogbeitrag in Zukunft berichten.

Doch an diejenigen, welche die Phobie auch kennen: Es ist möglich, da raus zu kommen! Wenn mir irgendwann mal tatsächlich übel werden wird, wird auch die Angst da sein, da bin ich mir relativ sicher. Aber sonst ist sie (fast) nicht mehr da. Panikattacken habe ich nur noch 2 oder 3 mal im Jahr, und auch dann nicht mehr so stark wie früher.

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Emetophobie ist eine der zehn häufigsten Phobien überhaupt. Frauen sind deutlich häufiger betroffen als Männer. Es gibt eine Unterscheidung in "Eigenemetophobie" (die Angst davor, sich selbst erbrechen zu müssen) und in "Fremdemetophobie" (die Angst davor, dass sich andere Personen übergeben müssen).

Trotzdem ist die Phobie eher unbekannt. Es ist oft eine große Scham dabei - zu "eigenartig" erscheint man sich, wenn man vor so etwas Natürlichem wie dem Erbrechen panische Angst hat. Zu oft hört man Dinge wie "das mag doch keiner" oder "das ist doch nichts Schlimmes", wenn man doch mal jemandem davon erzählt.

Auch ich habe noch nicht allzu vielen Personen davon erzählt. Bis heute. Doch es ist wichtig, darüber zu reden. Schämt euch nicht, wenn ihr vor etwas eine solche große Angst habt! Lasst euch helfen, geht zu eurem Hausarzt oder einem Therapeuten. Und redet darüber!

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