Spurensuche



Lange blicke ich in dein Gesicht. Suchend wandert mein Blick deine Gesichtszüge entlang. Ich suche nach Spuren – nach Spuren von dir. Nach irgendetwas, das mich an dich erinnert. So sehr es auch schmerzt, dich anzusehen: Ich bin unfähig, meinen Blick von dir abzuwenden.

Es fiel mir schwer, das Zimmer der Intensivstation des Krankenhauses zu betreten, auf dem du liegst. Ich wusste nicht, was mich erwartet. Dies ist eine traurige Premiere in meinem Leben. Nie zuvor habe ich einen Menschen gesehen, der im Koma liegt.

Ich hatte Angst. Langsam trat ich durch die Tür. Ich versuchte nicht auf den Mann, der in dem Bett neben deinem lag, zu blicken, sondern nur zu dir. Überall blinkte und piepte es, die Geräte, an denen eure Leben hängen wie an dem berühmten seidenen Faden, arbeiten unentwegt. Und dann sah ich dich.

So klein siehst du aus, inmitten all der weißen Kissen. Ein Schlauch, der in deinen Mund führt, hilft dir beim Atmen. Deine Brust hebt und senkt sich. Langsam. Immer wieder. Hebt und senkt sich. Ein beruhigender Anblick inmitten dieser unwirklichen, kalten Welt, in der du nun leben musst. Du bist dünn geworden, erschreckend dünn. Deine Haare sind inzwischen komplett weiß. Doch es sind vor allem deine Gesichtszüge, die sich verändert haben. Im ersten Moment fällt es mir schwer, dich wiederzuerkennen. Es scheint nichts geblieben von dem starken, gut gelaunten Mann, der du stets warst. Und der du in meiner Erinnerung auch immer bleiben wirst. Wie soll ich dieses Gesicht mit meinem Großvater in Verbindung bringen? Es scheint mir unmöglich.

Seit das Telefon unheilvoll klingelte, seit ich die traurige Nachricht erhielt, hatte ich Angst vor diesem Moment. Hatte Angst davor, dich wiederzusehen. Auch wenn ich mir nichts mehr gewünscht habe. All das Schreckliche, das sich bislang nur in meiner Fantasie abgespielt hat, wird nun durch deinen Anblick zu trauriger Realität.

Alles ist anders geworden, seit ich den Anruf bekam. Seit ich erfahren musste, dass du einige Stunden nach der Operation, bei der alles gut verlaufen schien, ins Koma gefallen bist. Ich musste mich zum ersten Mal in meinem Leben mit dem möglichen Tod eines mir nahestehenden Menschen auseinandersetzen. Es ist schwer. Es tut weh. Es schmerzt, an deinem Bett zu stehen und dich zu sehen. So klein. So ruhig. Es scheint, als schliefest du. Als würdest du jeden Moment die Augen aufschlagen und mich ansehen. Doch ich weiß, das wirst du nicht tun.

Mein ganzes Leben lang warst du da, selbstverständlich und verlässlich. In deiner Nähe fühlte ich mich stets geborgen und geliebt. Als ich noch klein war, hast du mich immer auf den Arm genommen und getragen, wenn ich nicht mehr laufen wollte. Und auch, als ich größer wurde, hast du dich immer gefreut, mich zu sehen.

Und nun liegst du hier. Ich will es nicht glauben. Doch bleibt mir keine Wahl. Ich muss es glauben. Auch deshalb bin ich hierher gekommen. Damit es zur Realität wird. Damit ich mich damit auseinandersetzen kann, dass ich dich verlieren könnte. Dass ich dich irgendwann verlieren werde. Es schmerzt. Tränen laufen über meine Wangen, doch ich spüre sie kaum. Ich kann den Blick immer noch nicht von dir abwenden. Dieser Augenblick scheint so unwirklich und ist doch so real. Ich wusste, er würde eines Tages kommen, und doch habe ich gehofft, dass er nie kommen würde.

Leise sage ich: „Hallo Opa.“ Du reagierst nicht. Natürlich. Was hatte ich auch erwartet? Dass du, entgegen allen Möglichkeiten, entgegen aller Naturgesetze, die Augen aufschlägst? Deine Hand nach meiner ausstreckst? Ich wusste, es würde nicht geschehen, und doch scheint diese Hoffnung tief in meinem Bewusstsein verborgen gewesen. Nun wird mir endgültig klar, was es bedeutet, dass du hier liegst. Was es bedeuten kann. Ich will nicht darüber nachdenken, will nicht hier sein, will an irgendeinem anderen Ort sein – ein Ort, an dem ich nicht nachdenken muss. Und doch gibt es keinen anderen Ort, an dem ich jetzt sein will. Ich will hier bei dir sein, muss hier sein. Und dich ansehen. Weiter nach den Spuren in deinem Gesicht forschen, die von dem Menschen zeugen, der du warst. Der du doch, trotz allem, das sich geändert hat, noch immer bist. Doch davon scheint nichts geblieben.

Nach einer Weile entdecke ich in deinem Gesicht die Spuren von dir. Sie sind kaum zu erkennen, sind winzig klein. Doch sie sind da. Unverkennbar. Ich bin froh darüber. Doch gleichzeitig macht es mich nur noch trauriger. Denn es führt mir deutlich vor Augen, dass tatsächlich du es bist, der dort liegt. Du, niemand anderes. Es macht mir Angst. Ich habe Angst, dass du nie mehr die Augen öffnen und mich ansehen wirst wie früher. Mit einem Lachen, das zu sagen scheint, dass alles möglich ist.

Lange sitze ich neben deinem Bett. Ich halte deine Hand. Lasse all die Momente, die wir zusammen erlebt haben, vor meinem inneren Auge vorüberziehen. Es waren gute Momente. Solche, von denen es leider zu wenige im Leben gibt. Solche, in denen man glücklich ist. Momente, in denen man sich geliebt und geborgen fühlt. Diese Momente sollen mir nun genommen werden?

Ich verbringe an diesem Nachmittag viele Stunden an deinem Bett. Später an diesem Tag muss ich bereits nach Hause zurückkehren. Dann bin ich wieder viele hundert Kilometer von hier entfernt. Ich muss fahren, und dich zurücklassen. Ohne zu wissen, ob ich dich jemals wiedersehen werde.

Als mir die Tragweite dieses Gedankens bewusst wird, fange ich erneut an zu weinen. „Ich will meinen Opa wiederhaben“, sage ich leise. Urplötzlich, als hättest du verstanden, was ich sagte, bewegst du dich. Während all der Zeit, die ich bisher an deinem Bett verbracht habe, warst du ganz ruhig. Ist es ein Zufall, dass du dich gerade in dem Moment, in dem ich dies sage, zum ersten Mal bewegst? Ich glaube nicht an einen Zufall. Ich bin überzeugt davon, dass du mich, in den Tiefen deines Bewusstseins, verstanden hast. Dass du mir zeigen wolltest: „Ich bin noch da.“ Und dass du mich verstanden hast.

Ich denke an den Moment zurück, als ich dich das letzte Mal gesehen habe. Es war an Weihnachten. Du hattest einen guten Tag. So gut wie wohl schon lange nicht mehr. Wenn ich heute daran denke, scheint es mir, als hättest du es geahnt. Dass dies das letzte Mal ist. Als hättest du geahnt, dass du beim nächsten Mal, wenn wir uns wiedersehen, nicht mehr mit mir sprechen kannst. Die Demenz ließ dich sonst vergessen, was ich in meinem Leben mache. Manchmal ließ sie dich sogar vergessen, wer ich bin. Doch an diesem Tag schien die Demenz zurückzutreten. Du hast mich gefragt, wie es mir geht. Du wusstest wieder, dass ich studiere und wo ich wohne.

Hätte ich doch nur geahnt, dass es das letzte Mal sein wird. Hätte ich es geahnt, dann hätte ich... ich weiß nicht, was ich getan hätte. Doch ich wusste es nicht. So verstrich dieser Moment, ohne dass ich mir seiner Bedeutung bewusst gewesen wäre. Dies macht mich traurig und doch bin ich froh darüber, dass ich noch einmal so mit dir sprechen konnte.

Als ich dich so betrachte, als ich an die Momente denke, die ich mit dir verbracht habe, wird mir klar, wie viel von dir in mir ist. Wie ähnlich wir uns sind. Ich grüble viel, denke viel nach, sorge mich oft – genau wie du. Auch mir ist mein Verstand sehr wichtig, und der Gedanke, dass die Demenz genau diesen zuerst angreift, macht mir Angst. Es tat mir weh, beobachten zu müssen, wie die Krankheit dich veränderte. Doch ich war froh über die Momente, in denen du wieder gelacht hast. In denen du, trotz allem, glücklich schienst.

Ich habe Angst davor, dass du irgendwann nicht mehr da sein wirst. Angst davor, dass irgendwann die Erinnerung an dich schwindet. Angst davor, dass nichts von dir bleiben wird. Doch mir wird klar, dass dies nicht geschehen wird. Zuviel von dir ist in mir. Zudem hast du mir etwas Wertvolles mitgegeben: Das Gefühl, geliebt zu werden. Das Gefühl, etwas Besonderes zu sein. Das ist etwas, das mir niemand mehr nehmen kann. Etwas, das mir von dir bleiben wird. Ich bin dankbar dafür.

Es wird Zeit, nach Hause zu fahren. Ich würde gern bleiben, doch mein Zug fährt bald. Ich sehe dich an. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Was soll man in einem solchen Moment sagen? Einem Moment, der vielleicht der letzte ist, den ich mit dir habe? Ich weiß ja nicht einmal, ob du mich verstehst. Deshalb sage ich nur dieses eine Wort: „Danke.“ Ich werfe dir einen letzten, langen Blick zu, dann drehe ich mich um und verlasse dich.

Ich weiß nicht, ob ich dich noch einmal wiedersehen werde. Ich wünsche es mir, doch mehr noch wünsche ich dir, dass du Ruhe findest. Ich bin froh, dass ich dich noch einmal gesehen habe. Dass mir diese Stunden mit dir gegönnt waren. Traurig fahre ich nach Hause. Ich werde dich vermissen.

Ich kam zu dir, um nach Spuren von dir zu suchen. Gefunden habe ich Spuren von mir. Diese Erkenntnis macht mich glücklich, bedeutet sie doch, dass ich dich nicht vergessen kann, weil du mir so viel für mein Leben mitgegeben hast. Du hast deine Spuren in mir hinterlassen, und darüber bin ich sehr froh. Ich werde dich immer bei mir tragen.

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